Belgien galt lange Zeit als Modell sozialpartnerschaftlicher Kompromisspolitik. Doch in der Krise wird der Klassenkampf auch in diesem Land mit immer härteren Mitteln ausgefochten.
In der Nacht auf Sonntag, 26. Februar, wurden durch die Polizei 20 schwarz gekleidete Männer mit Kapuzen – sogenannte Wachleute eines unbekannten Unternehmens – aus dem bestreikten Maschinenbaubetrieb Benelux Meister eskortiert. Sie waren früh an diesem Tag mit Lieferwagen und LKWs aus Deutschland (!) angekommen und mit Baseballschlägern, Gummiknüppeln, Tränengas und kugelsicheren Westen bewaffnet. Ihr Ziel lautete, die Lieferung von PKW-Teilen für die Automobilindustrie in Deutschland zu organisieren.
Die eingesetzten Milizen wandten harte Methoden gegen die vier Arbeiter an, die für die Instandhaltung der Maschinen verantwortlich sind. Man befahl ihnen, sich nicht zu bewegen, jedoch gelang einem der Arbeiter die Flucht und er konnte die Polizei informieren. Während dieser Aktion wurden zwei der Arbeiter verletzt. Die Streikenden informierten sofort die Gewerkschaften und schnell formierten sich AktivistInnen aus anderen Fabriken, um die Streikposten und Blockaden an den Werkstoren zu verstärken.
Wenige Tage zuvor hatte das Management damit gedroht einen Teil der Produktion nach Tschechien zu verlegen. In einer ersten Reaktion der ArbeiterInnen und ihrer Gewerkschaften wurde das Management blockiert, um ein Überdenken der Position zu erzwingen. Kurz darauf wurde beschlossen, drei mit Autoteilen beladene Lastwagen, die ihre Ware in Kürze ausliefern sollten, an der Fahrt zu hindern.
Den Einsatz einer privaten Miliz wurde von der sozialistischen Metallergewerkschaft als „Methode mit faschistischen Zügen“ kritisiert. Für viele ArbeitnehmerInnen war dieser Vorfall ein schwerer Schock. Andere verwiesen auf Ereignisse in den 1930er Jahren, als versucht wurde die linke Bewegung zu zerschlagen. In einem Land, das stolz auf seine sogenannten „Konsens“-Traditionen und „Verhandlungen“ ist, schienen solche Vorkommnisse bis vor kurzem undenkbar.
Dieses „belgische“ Modell ist international von den ArbeiterInnenorganisationen immer wieder gelobt und in andere Länder exportiert worden. Erst kürzlich wurden seitens der belgischen Regierung für Marokko Experten in Sachen „soziales Schlichtungswesen“ ausgebildet. Es ist so tief in der Tradition Belgiens verwurzelt, dass die Menschen denken, es ist Teil des „nationalen Charakters“.
Das Bewusstsein vieler GewerkschafterInnen wurde durch die Konzepte aus der Zeit des beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs der sogenannten „goldenen 1960er und 1970er Jahre“ geprägt. Die Realität zeigt uns allerdings, dass mit dem Wegbröckeln der materiellen Basis für dieses „soziale Modell“ im Zuge schwächeren wirtschaftlichen Wachstums, die Chefs wieder auf die altbekannten Methoden zurückgreifen und einen einseitigen Krieg gegen die Gewerkschaften zu führen beginnen.
Einige Unternehmer sind sogar zu illegalen und gewaltsamen Methoden gegen ihre MitarbeiterInnen bereit. Das ist zwar noch eine Minderheit, aber laut einer TV-Umfrage stimmten 89% der Befragten der Aussage zu, „soziale Konflikte seien zu gewalttätig geworden“ (RTL, Controverse, 5.März 2012). Jean Marie Fafchamps, Experte im Arbeitsministerium bestätigt, dass „ die industriellen Konflikte spannungsgeladen und aggressiv geworden sind“.
Während die Bosse sich auf die neuen Klassenkampfbedingungen schnell einstellten, versuchen die Gewerkschaftsführer verzweifelt die sozialpartnerschaftlichen Methoden der „guten alten Zeit“ wiederzubeleben. In den Betrieben beginnen BasisgewerkschafterInnen immer mehr die Sinnlosigkeit dieses Ansatzes, der auf die Vermeidung jeglichen Konflikts abzielt, zu erkennen. Die neue Situation zwingt sie, zurück zu den Methoden des „Klassenkampfes“ zu finden. Dabei dachte man in den Gewerkschaften, dies sei längst ein Ding der Vergangenheit. Auch die Bosse sind sich der neuen Situation durchaus bewusst. In einem offenen Brief der Industriellenvereinigung im französisch sprechenden Teil des Landes, in Wallonien, verurteilen sie den von ihnen wahrgenommenen „Terrorismus der Gewerkschaften“ und die häufigen sozialen Konflikte, die „ohne den geringsten Respekt vor den etablierten Verfahren“ stattfinden.
Zurück zum anfangs gebrachten Fall: Die ArbeiterInnen reagierten sehr gut und mutig auf die Aggression seitens der privaten Miliz in der Fabrik und gelang ihnen die Situation zu ihren Gunsten zu wenden. Die Milizionäre des Arbeitgebers wurden in der Fabrik eingesperrt und konnten sie nicht ohne die Zustimmung der Gewerkschaften verlassen. Nun waren sie es, die die Polizei zu Hilfe rufen mussten. Nach langen Verhandlungen mit dem Innenminister, dem Management und der örtlichen Polizei wurden sie mit leeren Händen aus der Fabrik eskortiert. Sie mussten die Wagenladungen an Materialien unangetastet im Inneren der Fabrik zurücklassen – ein klarer Sieg für die streikende Belegschaft.
Aber zum Erstaunen der Gewerkschaften wollte die Polizei diese Verbrecher weder verhaften noch wurden sie um ihre Ausweispapiere gebeten. Sogar der regionale sozialistische Wirtschaftsminister verurteilte dieses Verhalten der Polizei am folgenden Tag. Die Frage rund um dieses Vorgehen hat scharfe Debatten im Parlament nach sich gezogen. Es ist offensichtlich, dass die Polizei und die Justiz sich geweigert hatten ihr eigenes Gesetz betreffend „privater Milizen“ aus dem Jahr 1990 zu exekutieren. Die Empörung stieg weiter an, als bekannt wurde, dass der Chef alle Schränke der Arbeiter hatte öffnen und durchsuchen lassen.
Auf den Staatsapparat kann man während eines Arbeitskampfes nicht vertrauen. Vor 35 Jahren hatte die Leitung der Werft Boel Temse ebenfalls versucht eine private Sicherheitsfirma gegen die Gewerkschaften einzusetzen. Diese Firma („Inter-Garde“) wurde gegründet, um die ArbeitnehmerInnen direkt an ihrem Arbeitsplatz einzuschüchtern. Die Beschäftigten gaben den Sicherheitsleuten daher den Spitznamen „Intergangsters“. Durch Massenaktionen gelang es den Gewerkschaften die bewachten Gebäude einzugrenzen. Die ArbeiterInnen fürchteten sich zu recht vor einer Militarisierung der Gesellschaft, insbesondere im Fall sozialer Konflikte. Damals wie heute war es die schnelle und spontane Reaktion der ArbeitnehmerInnen, die den Boss und seine Miliz zum Rückzug zwang. ArbeiterInnen können sich im Klassenkampf nur auf ihre eigene Stärke verlassen.
Jedoch ist mehr nötig. Die Gewerkschaften müssen den Unternehmern klarmachen, dass sie die ArbeiterInnen in der ganzen Branche und im gesamten Land mobilisieren werden, wenn diese Methoden in anderen Betrieben wiederholt werden. Wenn die Chefs weiterhin private Milizen einsetzen, müssen wir uns organisieren, um ihnen entsprechend entgegenzutreten, wie es die ArbeiterInnen in den 1930er Jahren taten. Damals organisierte die belgische Arbeiterpartei die USAF (Union Socialiste Antifasciste) und eine Arbeitermiliz, um die Gewerkschaften und die Arbeiterpartei vor faschistischen Angriffen zu schützen. Noch haben wir diesen Punkt nicht erreicht, aber wir sollten uns auf eine stürmische Periode vorbereiten. Eine Schicht von ArbeiterInnen wird realisieren, dass sich die Zeiten wirklich zu ändern beginnen. Offener Klassenkampf ist nun das bestimmende Element in den „sozialen Beziehungen“, die Sozialpartnerschaft ist Geschichte.
Source: Der Funke (Austria)